Wie ich in meinem Land die Atomindustrie zu Fall brachte – und wie Sie das bei sich auch schaffen koennen!
Die siebziger Jahre waren die Bluetezeit der Atomindustrie. Egal, ob gross oder klein, Supermacht oder Entwicklungsland, jeder Staat wollte so viel Atomkraftwerke wie moeglich bauen. Aber dann kamen fast alle diese Projekte scheinbar urploetzlich zu Stillstand. War es der Atomunfall in Harrisburg? Waren die Menschen einfach atommuede geworden? Beides war es nicht.
Ausser Frankreich gaben die meisten zivilisierten Laender nach 1977 ihre Atomprogramme auf oder schraenkten sie erheblich ein. Da war der Unfall in Harrisburg 1979 noch zwei Jahre entfernt, und die Katastrophe von Tschernobyl 1986 liess noch ueber acht Jahre auf sich warten.
Wieso aber gab dann einer der aggressivsten und skrupellosesten Industriezweige, der noch dazu wie kaum ein anderer die Unterstuetzung der jeweiligen Regierung genoss, scheinbar kampflos und fast ueber Nacht ein viele Billionen, ein tausende Milliarden schweres Vorhaben auf?
Die Geschichte zweier ungleicher Maechte
Es ging um einen Kampf zwischen der Atomkraft und der wissenschaftlichen Vernunft. Beide sind miteinander unvereinbar, wie wir gleich sehen werden. Um ihre Existenz zu rechtfertigen musste die Atomenergie so tun, als sei sie im Vergleich zu anderen natuerlichen und menschengemachten Gefahren sicher. Und so begab sie sich auf einen der laengsten Kreuzzuege, in dem je die Wissenschaft mit Fuessen getreten wurde, indem sie verschiedene Risikoquellen zu "quantifizieren" suchte und dann "berechnete", wie diese sich auf Menschenleben oder Gesundheit auswirkten. Waehrend ein Reaktor wie in Fukushima (wo ja gleich sechs versagt haben) oder in Harrisburg oder Kruemmel (oder egal wo auf der Welt) eine radioaktive Verseuchung verursachen koennte, wenn alles darin enthaltene radioaktive Material gleichmaessig verteilt wuerde (z.B. durch einen Marschflugkoerper mit konventioneller Bewaffnung), die hunderttausende Menschen sofort bzw. in wenigen Tagen oder Wochen toeten und Millionen waehrend einer Generation dahinraffen wuerde, tat die Atomindustrie so, als wuerden bestimmte Sicherheitsvorkehrungen dieses Risiko in solchem Umfang ausschliessen, dass dieser Fall hoechstens einmal in, sagen wir, einer Million Jahren auftreten koennte.
Nun, solange dieser Unfall nicht eintritt, kann man so etwas schwer widerlegen. Aber genauso gut koennten Sie allen ihren Freunden auf den Kopf zusagen, dass ein Lotto-Hoechstgewinn voellig unmoeglich sei und sie auffordern, Ihnen doch das Gegenteil zu beweisen. Hoechstwahrscheinlich wuerde es keiner schaffen, auch wenn er sein ganzes Leben lang regelmaessig Lotto spielte.
Mit diesem Trick arbeitet die Atomindustrie. Sie koennen diese Behauptungen zwar nicht beweisen, aber ihre "Sachverstaendigen" mit ihren Doktortiteln von denselben Fakultaeten, die auch die Finanzkrise nicht vorhersehen konnten, hoeren sich immer vertrauenserweckender an als Laien. Und wenn Sie nicht in der Atomindustrie arbeiten … nun, dann sind Sie auch kein Experte, Punktum.
Nun, alles, was Sie machen muessen, ist, diese Leute beim Wort nehmen.
Sehen Sie, damals 1975 hatten wir in meinem Lande ein gutes Dutzende Atomkraftwerke in verschiedensten Groessen. Und in diesem Jahre 1975 sagte unsere Regierung "wir wollen mal sehen, wie schnell der Stromverbrauch waechst". Sie fanden heraus, dass die Wachstumsrate im Jahr ungefaehr 7% betrage, was eine Verdoppelung des Stromverbrauchs alle zehn Jahre bedeutet haette. Wenn man diese Leute fragte, "aber sehen Sie denn nicht, dass, wenn das immer so weitergeht, wir im Jahre 2100 jeder einen Atomreaktorblock von der Groesse, wie sie in Biblis stehen, im Vorgarten haben muessten?", dann haben sie darauf eine klare Aussage verweigert. Sie konnten nicht angeben, ab wann diese Kurve wieder flacher verlaufen solle, und sie gaben auch zu, dass das nicht lange gut gehen wuerde, aber sie behaupteten einfach, dass das in naechster Zukunft immer so weitergehen wuerde.
In einer Marktwirtschaft waere das je kein Problem gewesen – wer zu viel Kapazitaet aufbaut leidet spaeter unter Preisverfall und geht pleite. Um das zu vermeiden, wird er von vornherein klug planen und seine Investitionen nicht auf voellig unrealistische Annahmen stuetzen. Aber wenn der Staat mitmischt und grosszuegige Subventionen verteilt und Industriepolitik betreibt, sieht es anders aus. Billiger Strom war ein Staatsziel und das war's dann.
Dieses Land beschloss dann, dass es zu den bereits bestehenden ungefaehr einem Dutzend Atomkraftwerke (und ein paar bereits in Bau befindlichen) bis zum Jahre 2000 noch ungefaehr 150 (einhundertundfuenfzig!) weitere riesige Atomkraftwerke zu je 1.300 Megawatt Leistung brauchen wuerde.
Also suchten sie landauf, landab nach Bauplaetzen in der Naehe von Fluessen und Seen (wegen des Kuehlwassers) und begannen an Dutzenden Stellen, Grundstuecke aufzukaufen bzw. den Baugrund zu untersuchen.
Und dann wurde es 1977 und der oeffentliche Eroerterungstermin fuer ein Atomkraftwerk, das damals als das weltweit "modernste" galt, begann. Merken Sie sich das Wort "modernste", Sie werden ihm weiter unten nochmal begegnen.
Waehrend dieser oeffentlichen Eroerterung stellten wir im Wesentlichen zwei (Sorten von) Fragen:
a) Wie gross ist das Risiko des oben genannten Ablaufs mit Millionen Atom-Unfalltoten? Natuerlich lautet die Antwort immer: vernachlaessigbar ("Restrisiko")! Aber was heisst genau "vernachlaessigbar"? Ok, in Gottes Namen, antwortet die Gegenseite: Ein Unfall in mehr als einer Million Jahren! Weiter gefragt: Heisst das also, dass es, von heute ab gerechnet, erst in einer Million Jahre passiert? "Aber nein, das ist doch eine statistische Zahl aus einer Berechnung. Natuerlich koennte es auch viel frueher passieren und ab dann vielleicht ein Million Jahre nicht mehr." Also, hakten wir nach, wenn die Eintrittswahrscheinlichkeit nicht Null ist und es irgendwann passieren wird, kann es nicht auch gerade dann passieren, waehrend wir hier und hetzt darueber reden? An dieser Stelle werden die Atomkraftbefuerworter immer aergerlich, aber als Sachverstaendige in oeffentlicher Verhandlung sind sie natuerlich zur Wahrheit verpflichtet und daher geben sie widerwillig zu: "Ja, sicher, es koennte auch gerade jetzt passieren". Jetzt brauchen Sie nur noch zu fragen: Wenn dieser Unfall also hier und jetzt passierte und unser Land dadurch auf tausende Jahre unbewohnbar wuerde und hunderttausende Menschen dabei den Tod faenden und Millionen noch ueber Jahrzehnte spaeter an den Folgen sterben wuerden, wuerden Sie das dann immer noch als "billigen Strom" bezeichnen? Wuerden Sie –im Nachhinein!– immer noch von der sichersten Form der Stromerzeugung reden? Mehr muessen Sie nicht fragen.
b) Aber dann, um die Sache noch mehr zu verdeutlichen, und bevor diese Atomkraftexperten dann hinter verschlossenen Tueren wieder die Politiker und Beamten davon ueberzeugen koennen, wie unrealistisch und unwissenschaftlich eine solche Argumentationsweise eben doch sei, fragen Sie noch nach etwas Zweitem: Wie zuverlaessig ist denn eigentlich diese Berechnung dieser Eintrittswahrscheinlichkeit des groesstmoeglichen Unfalls "einmal in einer Million Jahren"? Bevor es jetzt kompliziert wird, betrachten wir ohne Umschweife die Antwort darauf. Alle diese Berechnungen fussen auf geschaetzten Versagens-Wahrscheinlichkeiten bestimmter Bauteile eines Atomkraftwerkes. So nehmen sie beispielsweise an, "die normale Kuehlung versagt alle x Jahre". Aber wenn sie versagt, gibt es ja noch die Notkuehlung (so zuverlaessig wie in Fukushima?). Und die Wahrscheinlichkeit, dass diese ausfaellt betraegt y. Damit nun beide gleichzeitig ausfallen und es zu einem schweren Unfall kommt, muss man x mit y multiplizieren und das Ergebnis ist, sagen wir, einmal in einer Million Jahre. Natuerlich sind diese Berechnungen umfangreicher und komplizierter, irgendwie muss man sein hohes Gehalt ja rechtfertigen. Aber wenn Sie dann hartnaeckig darauf bestehen, herauszufinden, wie Ihr Gegenueber zu diesen ganzen Zahlen gelangt ist, die in diese anscheinend so praezisen Berechnungen Eingang gefunden haben, dann merken Sie, dass all das auf reinen Schaetzungen beruht. Anders als in der Automobilindustrie, die bei jedem neuen Modell vorher Hunderte Crashtests durchfuehrt, wurde nie auch nur ein einziges groesseres Atomkraftwerk auf der gesamten Welt wirklich ernsthaft getestet! Das waere etwa so, also ob BMW oder Mercedes, VW oder Toyota Ihnen anbieten wuerden: "Wir haben da zwei Modelle, eines kostet nur ungefaehr die Haelfte, denn wir haben es nicht getestet, sondern wir haben die Sicherheit berechnet. Darum ist es billiger." Nun, mit welchem wuerden Sie Ihr Kind lieber in den Kindergarten fahren? Eben. Denn, wenn man zwei geschaetzte Zahlen miteinander multipliziert, kommt dennoch immer nur eine Schaetzung dabei heraus, auch wenn sie bis auf zehn Stellen hinter'm Komma "exakt" berechnet wurde! Was solche Schaetzungen und daraus abgeleitete Berechnungen taugen, sieht man an den Notstromgeneratoren in Fukushima, deren Luftansaugstutzen ungefaehr sechseinhalb Meter ueber dem Boden lagen. Der Tsunami tuermte das Wasser aber fast fuenfzehn Meter hoch auf. Wenn also geschaetzt wird, dann gibt es Schaetzfehler und eine Fehlermarge. Wie gross ist aber wohl dieser Fehler? Nun, es weiss natuerlich niemand genau, wie gross er ist, denn es sind ja eben nur grobe Schaetzungen, daher fragten wir diese Sachverstaendigen in der oeffentlichen Verhandlung: Meinen Sie nicht auch, dass nach Ihren Berechnungen dieser Unfall einmal in einer Million Jahren eintritt (was schon heute sein koennte), dass aber diese Schaetzung leider mit einer Unsicherheit von plus/minus zehn Millionen Jahren behaftet ist? Auch hierueber braucht man nicht weiter diskutieren – denn genauere Zahlen hat die Atomindustrie nicht, nur ihre Annahmen!
Das also war das Ende des bis dahin modernsten Atomkraftwerks der Welt – wenn aber das modernste und "sicherste" Atomkraftwerk der Welt schon nicht genehmigungsfaehig ist und man es nicht wagen konnte, es zu bauen, sollten dann nicht alle bestehenden und weniger "modernen" Atomkraftwerke nicht sofort abgeschaltet werden?
Also fassen wir zusammen:
Was Sie in Ihrem jeweiligen Lande machen muessen, um die Atomkraftwerke in Ihrem Land abzuschalten und damit das Ende Ihrer Atomindustrie einzulaeuten, ist nur dies:
Fragen Sie hartnaeckig, ob das schlimmstmoegliche Horrorszenario mit Hunderttausenden Toten hier und jetzt und heute passieren koennte und wenn ja, ob dann Atomenergie im Nachhinein noch vertretbar waere. Immerhin waere es beinahe um Japan geschehen gewesen.
Als naechstes fragen Sie, ob, auch wenn es noch so selten vorkommen koenne, wie denn diese "Seltenheit" eigentlich berechnet wurde, ob diese Berechnung auf soliden Messungen und Berechnungen (und welchen) oder auf Schaetzungen beruhe, oder ob all diese Sicherheitsabschaetzungen nicht vielmehr mit groesseren Unsicherheiten behaftet seien als sie ueberhaupt aussagen.
Vor der Katastrophe in Fukushima war es immer muehsam bis unmoeglich hiermit Gehoer zu finden, aber wenn Sie sich heute zusammentun, dann kann Sie niemand mehr ignorieren.
Falls immer noch jemand behauptet, Atomkraft sei die Loesung aller Menschheitsprobleme, auf die wir alle nur gewartet haben, dann gehoert er in die "Klapse" zu all den Moechtegern-Napoleons und –Neros. Und wenn es dort eng wird – lassen Sie die Neros frei herumlaufen, aber die Atomtechniker gehoeren lebenslang in Sicherungsverwahrung.
Oiso, pack' mas.
Hinweis: Dies ist die deutsche Fassung des englischen Artikels "How I brought down the Nuclear Industry in my Country – and how you can do it in yours …"
Deutscher Uebersichtsartikel hier: http://www.dasgelbeforum.de.org/forum_entry.php?id=208864
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Mit 40 DM pro Kopf begann die Marktwirtschaft, mit 400.000 Euro Schulden pro Kopf wird sie enden.
Atomkraft | in English
gesamter Thread:
- Wie ich in meinem Land die Atomindustrie zu Fall brachte – und wie Sie das bei sich auch schaffen koennen! -
CrisisMaven,
23.03.2011, 23:40
- 430.000 Menschen "Wir wissen nicht, ob es dauert Tage, Monate oder Jahrzehnte nach Hause gehen. Vielleicht nie." -
azur,
23.03.2011, 23:49
- Jetzt oder nie, wir das Atom, oder das Atom uns ... Gute Nacht ... (oT) - CrisisMaven, 24.03.2011, 00:15
- Einmal in einer Million Jahren... - Phoenix5, 24.03.2011, 18:32
- Wie schalten wir die AKWs ab und zwar sofort? -
Konstantin,
02.04.2011, 18:46
- Viele Hunde sind des Hasen Tod ... aber dennoch meint die Atomindustrie sogar darauf eine Antwort zu haben ... -
CrisisMaven,
02.04.2011, 21:35
- es zählt das was funktioniert -
Konstantin,
03.04.2011, 00:03
- Absolut, deshalb habe ich ja getitelt: "Viele Hunde sind des Hasen Tod" (oT) - CrisisMaven, 03.04.2011, 11:38
- es zählt das was funktioniert -
Konstantin,
03.04.2011, 00:03
- Viele Hunde sind des Hasen Tod ... aber dennoch meint die Atomindustrie sogar darauf eine Antwort zu haben ... -
CrisisMaven,
02.04.2011, 21:35
- Alternativen zur Atomkraft - Dokumentarfilm, 05.04.2011, 13:58
- 430.000 Menschen "Wir wissen nicht, ob es dauert Tage, Monate oder Jahrzehnte nach Hause gehen. Vielleicht nie." -
azur,
23.03.2011, 23:49