Bitte um ein paar Minuten
was so jeder assoziert, im gelben Bienestock (wo fleißig gesammelt
wird):
azur
Hallo Azur,
seit dem Link
http://www.dasgelbeforum.de.org/forum_entry.php?id=260602
juckt es mir in den Fingern, zur Sammlung (wenn auch indirekt) beizutragen.
Dabei dachte ich an die Memoiren meiner Mutter.
Sie waren ursprünglich für die Familie geschrieben.
Als ich sie bat, mir zu genehmigen, diese zu veröffentlichen, fragte sie mich, ob man dafür auch Geld bekommt. Sie ist normalerweise keine „Geschäftsfrau“, aber ich denke mal, dahinter verbarg sich der Wunsch, eben nicht leichtfertig mit den Memoiren umzugehen.
Darauf hin habe ich mich mit dem Wossidlow-Archiv der Uni Rostock (hab dort vor längerer Zeit mal eine Datenbank zur Übersicht der „Zettel“ von Prof. Wossidlow erstellt) in Verbindung gesetzt und die Antwort erhalten (sinngemäß):
Die Meisten glauben, Verlage bestimmen, aber letztendlich geht ohne die Unis nichts.
Nun ich bin ein Laie auf diesem Gebiet.
Vielleicht kann auch so eine Antwort selbsterklärend nur von einer Uni kommen.
Wie dem auch sei, hier Leseproben aus den Memoiren.
„Königsberg, die Hauptstadt Ostpreußens, ist auf der ganzen Welt als Stadt mit 700- jähriger Geschichte bekannt. Der deutsche Ritterorden errichtete 1255 zu Ehren des Böhmenkönigs Ottokar II. eine Burg, die Cönigsburg. Um die Burg sind drei mittelalterliche Städte entstanden, die Altstadt, der Löbenicht und der Kneiphof. Diese 3 Städte wurden erst 1724 vereinigt.
…
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Berthaswalde bei Neuhausen in Ostpreußen eigentlich nur ein Gutshof. Das Gut war lange Zeit im Besitz der Familie „““““““ „. Die kleinen Häuser, in denen die Landarbeiter mit ihren Familien lebten, gehörten wie Scheunen, Ställe und Speicher dem Gutsherrn. Die Fußböden der Häuser bestanden aus gestampftem Lehm, die zu den Feiertagen mit weißem Sand bestreut wurden. Opa arbeitete auf diesem Gut für einen Monatslohn von 20 Mark an 6 Wochentagen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Am Sonntag konnte er für den Familienbedarf auf einem Stück Land Kartoffeln anbauen. Die eigene Kuh musste Oma versorgen. Wer von den Landarbeitern keine Kuh besaß, bekam täglich 4 Liter Milch. Papa, der in Berthaswalde geboren wurde, erzählte gerne aus seiner Kindheit. So trugen alle Kinder Schlorren, das waren Holzpantinen, die in den Dörfern selbst angefertigt wurden. In jedem Dorf gab es einen, der Pantinen besonders gut schnitzen konnte und für Mädchen noch Fersenriemen anbrachte. Im Frühsommer plünderten die Jungen während der Mittagspause von 12.00 Uhr bis 13.00 Uhr den Kirschbaum des Gutsherrn. Nur der Diener im schwarzen Anzug und die Dienstmädchen wussten, dass nicht die Staren über den Kirschbaum hergefallen waren.
…
Nach dem 1. Weltkrieg durfte Deutschland laut Versailler Vertrag keine schweren Waffen mehr besitzen. Auf dem Gelände der Güter Ostpreußens gab es aber für Kanonen genügend Versteckmöglichkeiten. Die pfiffigen Knaben von Berthaswalde, die sich in allen Gutsgebäuden und Ställen gut auskannten, entdeckten recht schnell eine versteckte Kanone. Dass sie nie etwas gegen den Herrn des Vaters sagen durften, lernten sie schon in der frühesten Jugend. Die alte Volksweisheit: „Wes` Brot ich eß` , des` Lied ich sing“ war allen bekannt.
In Neuhausen, unweit von Königsberg, waren nach dem 1. Weltkrieg Soldaten stationiert, die mehr schlecht als angemessen verpflegt wurden. Deshalb wilderten sie oft am Wochenende in den Wäldern der Umgebung. Sie schossen sich ein paar Hasen und auch manchmal ein Reh. Herr „ „““““ „ ärgerte sich sehr, als er feststellte, dass auch in seinem Wald geschossen wurde und legte sich auf die Lauer. Eines Abends erschoss er einen jungen Soldaten, und als dann 2 Polizisten im Gut auftauchten, war er nicht auffindbar. Am 2. Tag stellte er sich aber der Polizei, und die ganze Angelegenheit wurde als Jagdunfall deklariert. In der Folgezeit plagte ihn dann das schlechte Gewissen. Er konnte nicht damit fertig werden, dass er einen jungen Menschen erschossen hatte. Er verlor jegliches Interesse an der Landwirtschaft, weil er zunehmend an Schwermut und Depressionen litt und wollte das Gut verkaufen. Da sich lange kein geeigneter Käufer finden ließ, der das Gut für einen Mindestschätzpreis von 110 000 Mark haben wollte, bot man den Landarbeitern an, sich ein Stück Land zu kaufen und ein Haus nach Wunsch bauen zu lassen. Im Gutseigenen Wald wurde Bauholz geschlagen, der Bau der Häuser begann. Meine Oma wollte sich aber nicht so hoch verschulden, und so fuhr sie eines Tages mit Opa mit einer Kutsche in die nahen Dörfer, um sich Häuser, die zum Verkauf standen, anzusehen. In Stantau fand sie ein altes Häuschen mit 3 Eingängen, das von einer Wiese und Ackerland umgeben war. Auf der einen Seite war das Gelände von einem bogenförmigen Wassergraben begrenzt. Das Ufer von Erlen umgeben, gefiel auch Opa. Der geräumige rote Backsteinstall war gut erhalten, höher als das Haus und bot ausreichend Platz für Pferd, Kühe und Federvieh. Auf dem Hof vor dem tiefen Brunnen verbreitete eine hohe Birke reichlich Schatten. Im Gemüsegarten vor dem Haus standen Apfelbäume und Beerensträucher grenzten an einem Weg, der zum Ortskern und den Nachbarn führte. Stantau war ein ruhiger Ort ohne Geschäfte, mit einer zweiklassigen Schule und 2 Gutshäusern.
Im Jahr 1922 und 1923 zogen meine Großeltern mit den Kindern dann nach Stantau. Opa wurde selbstständiger Bauer mit einer Rentenversicherung. In den nächsten Jahren schafften sie sich nicht nur mehr Hühner und Gänse an, sondern auch ein Pferd und zunächst eine zweite Kuh. Mein Vater besuchte mit seinen Geschwistern die zweiklassige Volksschule mit einem Schulweg von fünf Minuten. Im Frühjahr und im Herbst schickte der Lehrer immer 2 Jungen der 7. Und 8. Klasse zum Holzhacken auf den Schulhof. Für Schüler und Eltern war das völlig normal, weil die Schüler auch im Winter einen warmen Klassenraum haben wollten. Die Volksschule schloß mein Vater in allen Fächern mit der Note „sehr gut“ ab. Das Zeugnis zeigte er uns Kindern später immer sehr stolz. Mit einer solchen Notengebung war der Lehrer bei allen Schülern und Eltern beliebt und bekam nie Ärger. Danach erlernte mein Vater den Beruf des Schlossers in Königsberg. Als ihn sein Lehrmeister nicht mehr beschäftigen konnte, ging er als Melker nach Fuchshöfen auf das dortige Gut.
…
Im Herbst 1944 hörte man besonders nachts das Donnern der Kanonen von der Front. Im November 1944 hatten meine Großeltern die Genehmigung zum Schlachten eines Schweines erhalten. Papa schlachtete aber 2 Schweine und ein Kalb. Als Oma das bemerkte, hatte sie nur Angst, dass die Mieter, Familie Wohlgemuth, das mitbekommen könnte. Sie mussten auch aufpassen, dass sie dem Fleischbeschauer aus Versehen nicht drei Vorderbeine zeigen. Wohlgemuths waren sehr angenehme Mieter. Sie verfügten über einen eigenen Eingang an der Hinterseite des Hauses und den einzigen Keller im Haus. Zum Boden bestand für ihre Wohnung kein Zugang. Außerdem überließ Oma ihnen ein Stück Gartenland und ein mit Maschendraht eingezäuntes Stück Land für ihre Hühner. Die Mieteinnahmen von Wohlgenuths konnte Oma gut gebrauchen, denn meine Eltern brauchten nur 9 Mark Miete zu zahlen. Im Oktober 1939 zogen meine Eltern mit uns nach Spandinen in Königsberg in eine größere Neubauwohnung der Schichau-Werft. Die wesentlich höhere Miete von 49 Mark machte sich in der Haushaltskasse bemerkbar. 9 Mark davon übernahm die Werft. Im Herbst 1940 erkrankte Gerhard an Keuchhusten und steckte uns Kinder alle an. Während er draußen spielte, lagen wir Mädchen im Bett. Bei Irmgard und Margarete kam eine Lungenentzündung hinzu, bei mir eine Nierenbeckenentzündung mit Nierenbluten. Als Mutti dem Arzt von Margaretes Appetitlosigkeit erzählte, sagte er nur: „Die ist noch dick genug.“ Am nächsten tag war sie tot. Mutti verlangte sofort vom Arzt, dass Irmgard und ich ins Krankenhaus eingewiesen wurden. Es lag hoher Schnee, und der Krankenwagen kam bis nach Hause nicht durch. In eine dicke Decke eingehüllt trug mich Tante Lene zum Krankenwagen auf einem Trampelpfad etwa 200 Meter. Der Krankenwagen fuhr mit uns von Krankenhaus zu Krankenhaus. Vor einem Krankenhaus kam eine Krankenschwester, fühlte meinen Puls und sagte nur: „Die stirbt sowieso!“ Im nächsten Krankenhaus wurden wir dann aufgenommen. Weil es keine Medikamente gab, verordneten mir die Ärzte eine vierwöchige Obstkur. Außer Äpfeln, Bananen und Apfelsinen bekam ich nichts anderes. Da ist es doch verständlich, dass ich im Zimmer mit den anderen Kindern die Mahlzeiten tauschen wollte. Eine Krankenschwester verhinderte das aber sehr schnell. Eine Kinderkrankheit löste die andere ab. Zum Schluss bekam ich noch Nasendiphterie, so dass die Ärzte nicht mehr wussten, in welches Infektionszimmer sie mich legen sollten. Besonders unangenehm wurde es für mich, als sie mir die Ellenbogen schienten. Vom Fenster aus konnte ich die Kinder beim Schlittschuhlaufen auf dem Teich hinter dem Krankenhaus beobachten. Meine Eltern durften mich nur durch eine Scheibe an der Tür sehen. Einmal kam Tante Anna doch ins Zimmer und schenkte mir eine Tafel Schokolade, die ich ungesehen verzehren sollte. Durch den Husten ließen sich aber Schokoladenflecken nicht vermeiden, und ich sollte der Krankenschwester beim nächsten Besuch Tante Anna zeigen, die darauf Hausverbot erhielt. Erst im März konnte ich das Krankenhaus verlassen und erholte mich zu hause schnell. Allerdings musste ich nach dem langen Krankenhausaufenthalt das Laufen erst wieder lernen. Irmgard war lange vor mir aus dem Krankenhaus entlassen worden. Im Sommer fuhren wir mit den Eltern jedes Jahr mindestens 2-mal in den berühmten Königsberger Zoo. Als Kinder glaubten wir immer, dass Papa umfangreiche Kenntnisse über die Tiere hatte. In Wirklichkeit las er uns aber nur vor, was auf den Schildern stand. An heißen Sommertagen unternahmen Gerhard und ich einen Badeausflug zum Frischen Haff auf Fahrrädern. Barfuß ging es bergauf und bergab die Berliner Straße entlang bis hinter Kalgen an den Badestrand. Weil nur selten ein Auto auf der Straße war, brauchten wir kaum auf den Straßenverkehr zu achten. Oft und gern besuchte ich alleine Oma und Opa in Stantau. Mit der Straßenbahn Nr. 8 fuhr ich bis zur Endstation, dann einige Stationen mit dem Bus bis Quednau. Am Milchbock wartete ich auf das Milchauto, das mich die 8 Kilometer nach Stantau mitnahm. Einmal hatte ich das Milchauto verpasst und musste laufen. Erst bei Dunkelheit kam ich in Stantau an. Oma war wenig erfreut und glaubte, dass Mutti mich zu spät weggeschickt hatte. Wenn ich in Königsberg nacheinander die Tante Lene, Marie und Anna besuchte, erkundete ich die Innenstadt. Besonders anziehend war der Ladentisch bei Tante Anna, die mit Onkel Fritz (Atz) ein Fahrradgeschäft am Sackheim betrieb. Die Einzelteile der Fahrräder ließen sie sich aus Suhl schicken und bauten die Fahrräder dann nach den Wünschen der Kunden zusammen. Als es im Krieg keine Fahrräder mehr gab, verkaufte Tante Anna Ersatzteile, Kinder –und Puppenwagen. Einmal besuchten wir Tante Ida und Opa Witteck in Marienburg, der dort als Schneidermeister tätig war. Tante Anna fuhr ihren Viersitzer und Onkel Fritz den Sechssitzer mit Trittbrett.
…
Jede Nacht um 23.30 Uhr kamen die neuesten Nachrichten aus London. Da hieß es: „Hier ist BBC London. Wir bringen Nachrichten in deutscher Sprache!“ Mutti hatte mich vorher stets rechtzeitig geweckt und mit der Deutschlandkarte sowie Buntstiften ausgerüstet betrat ich die Küche und konnte jede Nacht mit einer anderen Farbe den Verlauf der Front eintragen. Beim Aufsuchen unbekannter Orte half mir Mutti. Weil Fräulein Hertha angst hatte, blieb sie im Bett. Ihr Zimmer befand sich dem Korridor gegenüber. Am Morgen wollte sie immer nur wissen, wie weit die Russen von Königsberg entfernt sind. Nachmittags durften wir uns Kinderbücher aus dem Regal nehmen, mussten sie dann nur an die gleiche Stelle wieder hinstellen. Ganz Kolberg war mit Flüchtlingen überfüllt und Fahrkarten in Richtung Westen wurden nur an Personen aus dem Osten verkauft. Eines Tages trafen wir eine Frau mit 2 Töchtern, die wegen der Bombenangriffe aus Aachen oder Hagen nach Kolberg zu Verwandten gereist waren und nicht mehr nach Hause konnten. Inständig bat sie Mutti, ihr doch für sie die Fahrkarten zu lösen, was Mutti dann auch tat. Mitte Februar begegneten wir einer Frau in Marineuniform, die Mutti ansprach. „Endlich ein bekanntes Gesicht „, sagte sie zu Mutti und stellte sich als Eigentümerin einer Drogerie vor, in der Mutti oft einkaufte. Sie erzählte uns, dass ihr Mann Königsberg nicht verlassen durfte, weil er das Geschäft nicht schließen durfte. Ihr Mann hatte sie noch mit ihren 4 Kindern zu Verwandten in der Nähe von Gotenhafen gebracht. Mit mehr als 10 000 anderen Flüchtlingen war sie am 27. Januar 1945 an Bord der „Wilhelm Gustloff“ gegangen. Bei Kälte und Schneetreiben hatten sie, Ihre Kinder und ihre Verwandten auf die Einschiffung am Hafenbecken ausgeharrt. Alle Passagiere waren glücklich und wähnten sich in Sicherheit. Auf offener See herrschte Windstärke 7 sowie starkes Schneetreiben, die „Gustloff“ hatte mittags am 30. Januar in Begleitung eines Torpedobootes abgelegt. Kurz nach 21 Uhr geschah das Unglaubliche. Die „Gustloff“war von 3 feindlichen Torpedos getroffen und erzitterte in allen Fugen. Das Schiff bekam Schlagseite und begann stetig zu sinken. Als das Schiff mit der Schiffssirene einen durchgehenden Ton gab, das heißt „Rette sich, wer kann“, warf die Drogeriebesitzerin ihre 4 Kinder in die Eiskalte Ostsee und sprang im Pelzmantel hinterher. Zwölf Seemeilen von der Küste entfernt brachte die Reise für 9343 Menschen den Tod. Als die Dame aufwachte, lag sie nackt im Bett. Man sagte ihr, dass Ärzte und Schwestern acht Stunden lang um ihr Leben gekämpft haben und gaben ihr eine Marineuniform. „Wenn ich meinen Mann wiedersehe, was soll ich ihm nur sagen, alle unsere Kinder sind in der Ostsee ertrunken“, sagte sie zu Mutti, die vergeblich versuchten, sie zu trösten.
Heinz konnte nach 3 Wochen im Krankenhaus abgeholt werden. Den neuen Kinderwagen, den Mutti vor Weihnachten bei Tante Anna zum Einkaufspreis erhalten hatte, hatte die Krankenschwester verliehen und die Frau hatte den Kinderwagen nicht zurück ins Krankenhaus gebracht. Für Heinz bekam Mutti einen anderen Kinderwagen. Nun fuhren auch keine Züge mehr in Richtung Westen, weil Kolberg bereits von den Russen eingekesselt war. Ende Februar ertönte bei herannahenden Fliegern keine Sirene mehr. Die Bäcker öffneten ihre Geschäfte nur Stundenweise. Da musste ich Brot holen. Vor dem Laden standen schon mehr als 10 Frauen, die urplötzlich in den nächsten Hauseingang rannten. Ich schaute mich um, konnte aber nichts erkennen. Am hohen blauen Himmel entdeckte ich ein Flugzeug, das ein kleines Säckchen fallen lies, welches immer größer wurde. Erst als es 200 Meter von mir furchtbar krachte, hatte ich erkannt, dass eine Bombe gefallen war. Als ich mit Brot in der Wohnung angekommen Mutti davon erzählte, war sie zu Tode erschrocken. Ende Februar oder Anfang März entdeckte Mutti einen Metallsplitter, der im Bett aus einem Betthaupt ragte. Wegen mehrfacher Bombenabwürfe hatten wir die Nacht im Luftschutzkeller verbracht. Fräulein Hertha rief entsetzt: „Was wird die Herrschaft dazu sagen, das schöne Bett ist beschädigt!“ und holt sofort zwei der drei Beamtenpensionäre aus dem Haus. Diese Herren meinten, dass es sich wirklich um Granatsplitter handele und wollten von Mutti wissen, ob sie über Nacht ein Fenster offen gelassen habe, was sie verneinte. Sie schauten sich die Fensterscheibe genau an und entdeckten in einer Scheibe ein kleines Loch. Die Fensterscheibe war aber nicht gesprungen. Sie schlugen vor, dass kein Hausbewohner mehr in der Wohnung bernachten sollte. Wegen der Fenster hielten sie den Luftschutzraum auch nicht mehr für geeignet und richteten den Kellergang ein. Zum Kellergang der beiden Nachbarhäuser brachen sie die Wand ein. Mindestens 3 Stunden bohrten und hämmerten sie so lange, bis die Löcher so groß waren, dass im Notfall auch unser Kinderwagen hindurch passte. Danach trugen sie aus den Wohnungen Matratzen und Decken in den Kellergang. Weil Wasser und Strom schon vor Tagen abgeschaltet worden waren, spendierte ab und zu ein Hausbewohner eine Kerze. Wenn es mittags für 2 Stunden Strom gab, kochten die Frauen eilig das Mittagessen. Wir Kinder wussten im Keller manchmal nicht, ob es noch Tag oder schon Nacht war. Täglich wurde Anfang April nicht weit entfernt Wasser ausgegeben. Mit Eimern gingen Fräulein Hertha, Irmgard und Gerhard, um sich nach Wasser anzustellen. Mich schickte Mutti mit Horst in den Keller, um ihr die Strickjacke zu holen. Gerade im Keller angekommen, setzte ganz plötzlich ein Trommelfeuer ein, das gar nicht aufhören wollte. Die Russen donnerten viele Stalinorgeln in die Stadt. Zuerst dachte ich, dass das ganze Haus über mir eingestürzt sei. Horst schrie fürchterlich, die Fensterscheiben klirrten. Leichenblass erschien en die 3 Beamtenehepaare aus der Parterrewohnung und aus dem ersten Stock im Keller. Zuletzt nach einer Weile hatte es auch Mutti mit Heinz auf dem Arm halb kriechend durch die vielen Glasscherben im Treppenhaus aus der 2. Etage geschafft. Als es nach Stunden ganz ruhig war, erschien weinend Fräulein Hertha mit Gerhard ohne Wassereimer und erzählte. Dass Irmgard tot auf der Straße liege. Blut sei aus dem Mund und der Nase ausgetreten und dass sie Irmgard noch angehoben habe, aber sie war tot. Während sie sofort mit Gerhard in den nächsten Keller gerannt sei, wollte Irmgard zu Mutti laufen. Nachdem alle lange geweint hatten, fingen die 3 Pensionärsehefrauen an, auf Mutti einzureden: „Sie werden sich doch nicht darauf verlassen, was das Dienstmädchen Ihnen erzählt! Sie können das Kind doch nicht auf der Straße liegen lassen! Sie werden sich doch wohl selbst überzeugen und nachsehen, was los ist!“ Von den Männern erklärte sich keiner bereit, mit Mutti mitzugehen. „Wenn Du gehst, gehen wir alle mit!“, sagte ich dann entschlossen zu Mutti, und sie ging nicht. Bei einbrechender Dunkelheit kamen dann 5 junge Soldaten in Uniform zu uns in den Keller. In miserablem Deutsch erklärten sie uns, dass sie nur noch schlafen wollten, weil sie 7 Nächte an der Front ohne Ruhe kämpfen mussten. Sie wollten die Waschküche belegen, und die Männer sollten Koffer vor die Tür stellen und baten uns noch, sie nicht zu verraten. Mehr aus Angst als aus Hilfsbereitschaft kamen die Männer ihren Wünschen nach. Sie waren sich danach relativ schnell einig, dass es sich um Holländer und Belgier handelte, die auf deutscher Seite kämpften und desertiert waren. Nach 22 Uhr erschienen 2 Soldaten im Kellereingang und teilten uns mit, dass wir uns unverzüglich ohne Gespräch zum Hafen begeben sollten. Wegen des Funkenfluges sollten wir uns feuchte Decken umhängen. „Die Deutschen schießen zurück, niemand muss Angst haben. Wir bringen die Bevölkerung in Sicherheit, im Hafen stehen genügend Schiffe bereit.“ Mutti sprach sie noch wegen Irmgard an. „Bei dem Kind ist die Lunge durch die Druckwelle geplatzt. Die Toten werden würdig bestattet“, erklärte sie. Ich dachte sofort an die ersten 8 Tage nach der Schifffahrt nach Kolberg, an denen ich immer, wenn ich abends in die waagerechte Körperhaltung kam, im Kopf das Gefühl hatte seekrank zu sein und mit den Schiffsbewegungen zu schaukeln, was sehr unangenehm war. Mutti wollte sich noch von einem der Herren den anderen Wintermantel aus dem Korridor in der 2. Etage holen lassen, wozu aber keiner der Pensionäre bereit war. Nur unseren Kinderwagen trugen sie noch auf die Straße. Eine feuchte Decke spannte Mutti über ihre und unsere Schultern, Gerhard und ich hielten einen Zipfel fest. Das Laufen durch die ganze Innenstadt in den engen Straßen war sehr beschwerlich. Fräulein Hertha lief vor uns und wies uns den Weg zum Hafen. Auf der rechten und linken Straßenseite brannten im Wechsel Häuser lichterloh, Flammen schlugen wüst in den Himmel. Von einigen Häusern standen nur noch die Mauern. Fräulein Hertha rief mehrmals: „Aufpassen, rechts kommt gleich ein Balken!“. Hinzu kam noch, dass am Kinderwagen alle 40 – 50 Meter das rechte Hinterrad abfiel, weil der Splint fehlte. Gerhard bückte sich sofort, um das Rad wieder auf die Achse zu stecken. Rechts und links lagen Trümmer, die noch glühten. In der Mitte der Straßen sahen wir Leichen, alte Männer, Soldaten, Frauen und Kinder mussten wir umfahren. Einmal mussten wir den Kinderwagen über ein totes Pferd heben.
…
Vielleicht gibt es ja Ideen, wie man damit umgeht.
Vorsichtig und freundlichst
Chrysostomos
gesamter Thread:
- Die Gelbe Hammelhorde -
RogRog,
19.10.2012, 02:50
- (: (oT) - tar, 19.10.2012, 07:03
- Ich bin sehr, sehr froh, dass sie alle hier sind... - Silke, 19.10.2012, 08:53
- In diesem Werk vermisse ich schmerzlich die Reinkarnation des - Zarathustra, 19.10.2012, 09:53
- Erkenne Dich selbst ;) - Weitermachen - über Garten der Lüste bis zum Weltuntergangstriptychon -
azur,
19.10.2012, 10:04
- "Mensch erkenne Dich selbst" -
satsangi,
19.10.2012, 10:39
- Bekanntlich - alt und tausendfach verwendet: Nosce te ipsum. - Erkenne dich selbst! Deine Deutung umstritten -
azur,
19.10.2012, 10:48
- Deine Deutung umstritten... - satsangi, 19.10.2012, 21:00
- Bekanntlich - alt und tausendfach verwendet: Nosce te ipsum. - Erkenne dich selbst! Deine Deutung umstritten -
azur,
19.10.2012, 10:48
- "Mensch erkenne Dich selbst" -
satsangi,
19.10.2012, 10:39
- Soundtrack dazu -
moneymind,
19.10.2012, 11:07
- So oder so ist das Leben - Und über uns der Himmel -
azur,
19.10.2012, 12:03
- Mmmmm -
moneymind,
19.10.2012, 12:26
- "Hermine" - Noch ein erschütternder Nachkriegsfilm - Vorsicht: Nichts für schwache Nerven -
azur,
19.10.2012, 13:59
- Vielen Dank für Deine vielen spannenden Links und Infos wie hier. (oT) - Silke, 19.10.2012, 16:41
- "Hermine (oT)" hätte gereicht ... - moneymind, 19.10.2012, 23:59
- "Hermine" - Noch ein erschütternder Nachkriegsfilm - Vorsicht: Nichts für schwache Nerven -
azur,
19.10.2012, 13:59
- Bitte um ein paar Minuten -
Chrysostomos,
21.10.2012, 13:02
- zumindest vervollständigen...Gustloff Steuben Goya - Silke, 21.10.2012, 15:21
- Vielleicht möchte Deine Mutter gehört und verstanden werden - moneymind, 22.10.2012, 01:28
- Es gibt einen Verlag, der sich auf so etwas spezialisiert hat - Gaby, 22.10.2012, 10:02
- Erzählen, erzählen - bewahren, bewahren! -
azur,
22.10.2012, 13:51
- Überwinden durch nicht vergessen - Chrysostomos, 24.10.2012, 10:33
- Mmmmm -
moneymind,
19.10.2012, 12:26
- So oder so ist das Leben - Und über uns der Himmel -
azur,
19.10.2012, 12:03
- "Elliott" mit einem "t" – eine Todsünde :-) (oT) -
Elli,
19.10.2012, 12:13
- Nein, ein Wortspiel :-) - Gaby, 19.10.2012, 12:26
- köstlich! :-) - BBouvier, 19.10.2012, 14:46
- Ich fühle mich gut charakterisiert... - Hasso, 19.10.2012, 17:26
- Das RogRog'sche Bild: Keine Farbe, aber viel Inhalt - paranoia, 20.10.2012, 18:26